"Go West" - Zerfallende Staatlichkeit als Fluchtursache
11. LIBERAL INTERNATIONAL DAY am Sonnabend, 16. April 2016, Deutsche Bank, Berlin
Begrüßung durch Herrn PATRICK MEINHARDT,
Präsident der Deutschen Gruppe der Liberal International e.V.
P. Meinhardt dankt den persönlich Anwesenden:
Herrn DR. ANSGAR TIETMEYER, Leiter Public Affairs, Deutsche Bank AG, Berlin, für die erneute Gastfreundschaft in „seinem Haus“, dem „Atrium Unter der Linden“ der Deutschen Bank.
Danach Begrüßung der anwesenden Podiumsgäste, Ehrengäste und diverse Mitwirkende:
Dr. ANSGAR TIETMEYER, Deutsche Bank Berlin
MANFRED R. EISENBACH, Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Friedrich-Naumann-Stiftung e.V.
ULRICH NIEMANN, Leiter Fachbereich Internationale Politik der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
EHRENGÄSTE:
Dr. JULI MINOVES TRIQUELL, amtierender Präsident der Liberal International e.V.
ehemaliger AUSSENMINISTER der Principauté d‘Andorra
HANS VAN BAALEN, Ehrenpräsident Liberal International und Präsident ALDE Party
Mitglied des Europäischen Parlaments und Sprecher der ALDE-Fraktion für Außen- und Sicherheitspolitik
Prof. Dr. TILMAN BRÜCK, Direktor des ISDC – International Security and Development Center
Visiting Professor an der London School of Economics and Political Science (LSE)
PODIUMSTEILNEHMER
Prof. Dr. UDO STEINBACH, Nahost-Experte, Historiker
Ehemaliger Leiter des Deutschen Orient-Institut Hamburg
Dr. RENÉ KLAFF, Leiter des Regionalbüros Mittlerer Osten, Nordafrika der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
GUDRUN KOPP, Parlamentarische Staatssekretärin a.D. im Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Vorstandsmitglied des European Network of Political Foundations (ENoP)
Dr. SADIQU AL-MOUSLLIE, Mitglied des Syrischen Nationalrats
CHRISTIAN JETZLSPERGER, Auswärtiges Amt, Referatsleiter SO1 "Stabilisierung, Steuerungsgruppe, Grundsatzfragen, fragile Staaten"
MODERATION:
HENNING KRUMREY, Journalist, Leiter Abteilung Politik und Kommunikation der ALBA Group Berlin
Am Ende seiner Begrüßung bittet der Präsident das Auditorium, sich zu Ehren an die beiden Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Dietrich Genscher und Dr. Guido Westerwelle, sowie den langjährigen Bundesgeschäftsführer der FDP und Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Hans-Jürgen Beerfeltz, zu erheben und der Verstorbenen zu gedenken.
Dr. ANSGAR TIETMEYER begrüßt die Anwesenden im Namen „seines Hauses“ und wünscht den Gästen und Freunden der DGLI interessante Beiträge und Diskussionen. In seiner kurzen Rede berichtet er von der Historie des Hauses der Deutschen Bank Unter den Linden, ihrer Gründungsgeschichte bis in die heutige Zeit. Die Bank wurde 1870 in Berlin gegründet. Dr. Tietmeyer spricht über den äußerst bedeutenden Standort seines Hauses: „Das Gebäude, in dem wir uns heute befinden, war früher der Hauptsitz der Diskontogesellschaft, die die Deutsche Bank 1929 in der damals größten deutschen Bankenfusion übernommen hat. Nach der Wiedervereinigung konnte die Bank dieses Gebäude 1992 zurückerwerben und nach fünfjähriger Renovierung 1997 offiziell beziehen. Die Bank beschäftigt heute in Berlin ca. 3.700 Mitarbeiter – Berlin ist damit der fünftgrößte Standort weltweit. Berlin ist nicht nur die politische Hauptstadt für die Deutsche Bank, Berlin ist für uns vor allem auch ein Standort für Innovation, Kunst und Kultur sowie gesellschaftliches Engagement. Mit über 56.000 Kunstwerken unterhält die Bank eine der größten Kunstsammlungen der Welt, aus der in der angeschlossenen Ausstellungshalle, dem früheren Deutschen Guggenheim Museum Berlin, immer wieder Werke gezeigt werden. Schließlich pflegt die Bank an diesem Standort besonders auch den Dialog mit der Politik und Gesellschaft.“
Dr. Tietmeyer weist auf die aktuelle Bedeutung des Tagungsthemas der Liberal International an diesem Tag und Ort hin, das natürlich nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch die Flüchtlingskrise und die fragile Situation innerhalb Europas im Besonderen berührt. Nicht zuletzt ist dies auch das Thema seines Hauses hinsichtlich der weiteren wirtschafts- und finanzpolitischen Entwicklung. Wie Dr. Tietmeyer ausführt, ist der ständige Dialog mit der Gesellschaft in Form vielfältiger und zielgerichteter Begegnungen ein Teil des Konzepts, den die Deutsche Bank pflegt und fortführen wird, und wünscht dem Kongress in diesem Sinne „viel Erfolg“.
ULRICH NIEMANN fokussiert seine Ausführungen aus dem Blickwinkel seiner jahrelanger Erfahrung als Fachbereichsleiter „Internationale Politik“ vorwiegend auf den immer deutlicher werdenden „Staatszerfall“ in fast der gesamten nordafrikanischen Region. Er plädiert für die Dringlichkeit, besonders gerichtet an die Europäische Union, größere Anstrengungen zu machen, um den notleidenden Menschen in dem Bemühen, sich „vor Ort“ ein sicheres Leben aufzubauen, weitmöglichst behilflich zu sein. Rechtsstaatliche Entwicklung beim Aufbau der Länder, keine Abschottung, Verstärkung der Entwicklungshilfe sind aus der Sicht Niemanns die großen „Hausaufgaben“ für die Europäer.
MANFRED R. EISENBACH vermutet in den nächsten Jahrzehnten eine von jetzt weltweit 70 Millionen auf möglicherweise bis zu 500 Millionen anwachsende Zahl von Flüchtlingen, die nicht nur vor Europas Toren stehen, sondern in alle prosperierenden und sicheren Länder drängen. Er sieht die Fluchtursachen nicht zuletzt in dem generellen Politikversagen in den Herkunftsländern, das seit langer Zeit manifest ist. Eisenbach spricht aber auch von hausgemachten Versäumnissen in Deutschland und Europa und von der absoluten Notwendigkeit von großen Investitionen im Rahmen einer „europäischen Flüchtlings- und Entwicklungspolitik“ in den betroffenen Regionen, um der notleidenden Bevölkerung eine realistische Lebensperspektive in ihrem kulturellen Umfeld zu schaffen. Wir – unsere gesamte Zivilgesellschaft – ist hier nach Auffassung von Eisenbach gefordert, nach Kräften existentielle Not zu lindern, und er zitiert in diesem Zusammenhang Albert Camus: „Freiheit bedeutet nicht in erster Linie Privilegien, sondern Verantwortung.“
DR. JULI MINOVES TRIQUELL, erinnert am Anfang seiner Ausführungen an eine Äußerung des ehemaligen amerikanischen Präsidenten, George W. Bush, der geäußert haben soll, Europa würde aus zwei Teilen bestehen: dem alten und dem neuen Europa – schön von außen, fragil von innen.“ Dr. Minoves weist darauf hin, dass insbesondere der 2. Weltkrieg innerhalb Europas neue Grenzen und neue Territorien geschaffen hat. Er bedauert insbesondere die Entwicklung in Ungarn unter dem derzeitigen Ministerpräsidenten Victor Urban. „Er hat vergessen, was Demokratie bedeutet, er ist ein ‚illiberaler‘ Demokrat." Er sieht in solchen Ländern keine allzu deutliche, positive Entwicklung, weder politisch noch ökonomisch. Dr. Minoves sieht für Europa auch eine eindeutige globale Verantwortung.
In seinem Impulsreferat hebt HANS VAN BAALEN zunächst hervor, dass Europa von fragilen, zerfallenden Staaten umgeben ist. Er sieht sogar noch eine Zunahme der Instabilität an den europäischen Außengrenzen, im Osten die Ukraine, Weißrussland, im Südosten die Türkei und im Süden Libyen, Ägypten, Tunesien, Algerien und vielleicht auch Marokko. Van Baalen befürchtet, dass einige davon vollständig im Krieg zu versinken drohen. Nach seiner Meinung waren und sind die Länder an den europäischen Außengrenzen geostrategisch benachteiligt, was Freiheit, Wohlstand und Stabilität betrifft. „Aber in welchem Maße ist die EU selbst ein fragiler Staat?"
Die EU Mitgliedstaaten stehen hier in besonderer Verantwortung für viele Angelegenheiten, haben sie doch ca. 60 bis 70 % der staatlichen Regelungen auf die europäische Ebene nach Brüssel delegiert. Seit dem Schengener Abkommen gibt es keine innereuropäischen Grenzen mehr. Es geht nun aber darum, die europäischen Außengrenzen zu schützen und zu kontrollieren. Hier wird nun europäischer Zusammenhalt dringend erforderlich, angesichts von mehr als 1 Million Flüchtlingen im Jahr 2015. Erste Terroranschläge 2004 in Madrid, später in London, Kopenhagen, Paris und Brüssel lassen die Ängste in der Bevölkerung wachsen. Dies spielt natürlich den radikalen politischen Kräften in die Hände, die sich häufig als Europagegner zu erkennen geben.
Die großzügige Willkommenskultur von Kanzlerin Merkel hat unbeabsichtigt unkontrollierbare, negative Kräfte entfesselt. Im Interesse der Sicherheit Europas muss die Politik für die Eindämmung der Flüchtlingsströme sorgen. Gleichzeitig ist für das politische Europa aber auch eine Politik des Mitgefühls und der Humanität unverzichtbar, die den internationalen Verpflichtungen gerecht wird. Im Jahr 2016 steht die forcierte Zusammenarbeit der EU mit der Türkei an, die EU gibt diesem NATO-Staat 6 Milliarden zur Finanzierung der mehr als 2,3 Millionen Flüchtlingen. Die Türkei ihrerseits erwartet in Kürze eine visumsfreie Einreise nach Europa. Ebenso steht die Diskussion über die Intensivierung der Beitrittsverhandlungen der Türkei in die Europäische Union auf der Agenda, die Mitgliedschaft der Türkei in der EU wird nach Auffassung Van Baalens wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit sein.
Die EU steht in der Pflicht, durch entsprechende politische Maßnahmen eine weitere Destabilisierung der EU sowie des europäischen Kontinents insgesamt zu verhindern. Es bedarf verstärkter Zusammenarbeit mit der Türkei, Ägypten, Tunesien, Marokko – relativ stabile Länder, die wichtig sind für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen. „Es ist an einer harten Linie Russland gegenüber festzuhalten, Putin ist überzeugt, von der Schwäche Europas zu profitieren. Es scheint, dass er das politische Ziel hat, die ehemalige Sowjetunion zu ihrem früheren Glanz zurückzuführen. Das Wichtigste für die EU ist jetzt, die Außengrenzen zu schützen, die Flüchtlingskrise mit strengen, aber ebenso humanen Beschlüssen zu verwalten und sie mit Hilfe der Bevölkerung der EU zu lösen.
PRO: DR: TILMAN BRÜCK,
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Professor Brück stellt in seinem Vortrag ein 5-Thesen-Papier vor, und stellt die Eingangsfrage, ob die EU selbst ein fragiler Staat ist. „Die Herausforderung, vor der wir im europäischen Raum heute stehen, ist im Wesentlichen NICHT das Ergebnis von Katastrophen, Krisen und Konflikten JENSEITS von Europa. Vielmehr sind die Herausforderungen im Kern das Ergebnis europäischer Politik – sie sind eine Krise Europas."
1. Migration in Europa und in die Neue Welt
"Ein Blick zurück in unsere eigene Geschichte zeigt, dass Reichtum und Wohlstand in Europa und dem Mittelmeerraum nicht immer ein Nord-Süd-Gefälle war. Gruppen von Menschen waren in Europa immer in Bewegung, sei es als Reaktion auf militärischen Druck oder pro-aktiv, um neue ökonomische Chancen wahrzunehmen." Global betrachtet sind nach Brück selbst große Migrationswellen weder eine Erfindung des 21. Jahrhunderts noch ein exklusiv europäisches Phänomen. Besonders die Auswanderungswelle aus Europa im 19. Jahrhundert in die Neue Welt ist hier ein passender Vergleich. Religiöse Intoleranz, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, kulturelle Stagnation und repressive Staatlichkeit haben Millionen von aktiven, gestaltungswilligen Menschen nach Nord- und Südamerika, nach Afrika, Australien und Neuseeland ziehen lassen, um dort ihr Glück zu versuchen. Es waren Menschen, die etwas versuchen wollten, die bereit waren, etwas aufzubauen, mitzugestalten, und die die Freiheit suchten. „Es war also quasi ein Exodus der Liberalen in eine neue Welt. Langfristig betrachtet war es trotz der sub-optimalen Startbedingungen ein großer Erfolg, sowohl für die Migranten als auch für die aufnehmenden Länder. Ich bin deshalb besorgt, wenn nach neuen Mauern für Europa gerufen wird", sagte Brück.
2. Politische Inkonsistenz als Wurzel allen Übels
Der Fall Syrien: Am Ende der Erdölvorkommen stürzte das Land unter Assad jun. in eine massive finanzpolitische Krise, die zu Unruhen und letztlich Krieg führten. Europa habe viel zu lange gezögert, dem zunächst reformwilligen Regime des zweiten Assad den Wechsel in das Lager Europas schmackhaft zu machen. Brück beschreibt dann eindrucksvoll am Beispiel Syrien, Russland, Ukraine, Türkei, Ägypten, Libyen, Algerien und Tunesien die zahlreichen politischen Fehlentscheidungen der Europäischen Union.
3. Selbstbeschränkung der Macht tut not und gut
„In großen Teilen der Wirtschaftspolitik hat die Politik ihre diskretionäre Entscheidungsmacht institutionell beschnitten und delegiert. Letztlich ist die Politik die Hüterin dieser Regeln und könnte sich, wenn sie denn wollte, wieder erneut im Detail einmischen (und tut es bei Personalentscheidungen ja auch weiterhin). Aber die großen Leitlinien der wichtigsten wirtschaftspolitischen Felder sind, zum Glück, nicht in den Händen gewählter Politiker." In gewisser Weise sei die Europäische Union der Versuch, weitere Teile der Politik „auszusourcen“ und den Experten zu überlassen, in diesem Fall den Beamten der Kommission und den vielen, vielen Sitzungen nationaler Experten und Politiker, die aber oft weit weg von der direkten Legitimation durch nationale Wähler agierten. Einerseits hat dies eine Politikverdrossenheit zu Tage gefördert, die ja in ähnlicher Form in den ähnlich großen USA in Bezug auf die amerikanische Bundesregierung vorkomme. Andererseits habe es in Europa aber auch zu einer Vielzahl von unvollständigen Kooperationsprojekten geführt, die nun zu kollabieren drohten.
4. Zu wenig Europa ist das Problem
Die Fragilität Europas stammt nicht von der Überdehnung des inneren Projekts Europas, sondern von der mangelnden Tiefe der Zusammenarbeit unserer Mitgliedstaaten. „Wir haben nicht zu viele Kompetenzen an Europa abgegeben, sondern zu wenige“, meint Brück. Aktuell steht das Projekt Schengen auf der Kippe, und es ist nicht klar, ob der kommende Sommer und eine mögliche weitere Flüchtlingswelle, eventuell über Italien und Spanien, Schengen dann den endgültigen Todesstoß geben könnte. Im Asylrecht war Dublin bei den rasant steigenden Asylzahlen zum Scheitern verurteilt. Und schließlich zeigten die Attentate von Paris und Brüssel auf, wie ineffektiv die Zusammenarbeit in Europa bei der inneren Sicherheit sei. „Um diese Defizite zu beseitigen, bedarf es besserer Kooperation in Europa, mehr europäischer Institutionen und mehr europäische Integration."
5. Die Zukunft der Außen-und Sicherheitspolitik
Professor Brück beklagt die fehlende gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, gerade im Hinblick auf Russland und speziell Putin. Sollte Putin die EU noch systematischer destabilisieren wollen, so würde sich die fehlende europäische Einigung in diesem Bereich bitter rächen. Der Euro konnte gerade noch bei laufendem Betrieb gerettet werden. Ob dies im Angriffsfall auch für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU gilt, wage er zu bezweifeln. Europa habe während des Kalten Krieges inspiriert, als Westeuropa in seiner Freiheit bedroht war. Europa habe nach dem Fall der Mauer inspiriert, als Osteuropa in die Freiheit drängte. Aber Europa inspiriere leider nicht bei der Lösung der enormen strukturellen Probleme unserer Nachbarn im Osten und im Süden. Europa brauche dringend, auch im eigenen Interesse, eine gemeinsame und eine konsistente Antwort auf diese epochale Herausforderung. „Die Krise ist nicht eine Flüchtlingskrise – und auch nicht eine Krise der Staatlichkeit unserer Nachbarstaaten. Die Krise ist eine Krise Europas“, konstatiert Brück
DISKURS
DR. SADIQU AL-MOUSLLIE
Dr. Al-Mousllie verweist rückblickend auf die Entwicklung in Syrien im Jahr 2011: Das Volk hat monatelang friedlich demonstriert mit dem Begehren nach Reformen in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen, nach mehr Freiheit und mehr Selbstbestimmung. Nachdem Präsident Assad sich entschied, mit Gewalt gegen sein Volk vorzugehen, wurde aus friedlichen Protesten ein Bürgerkrieg mit tausenden von Opfern, bis heute. Dennoch war der Auslöser für die Flucht Tausender vorrangig nicht einmal die Unterdrückung, sondern der dramatische ökonomische Absturz. Die Menschen sahen und sehen in ihrem Land keine Zukunftsperspektive mehr, weder für sich selbst noch für ihre Kinder.
Al-Mousllie berichtet, dass vor Ausbruch der Unruhen die gesellschaftspolitische Atmosphäre in Syrien tolerant und weltoffen, europaorientiert war. Die großen Weltreligionen respektierten sich gegenseitig. Erst mit der von Präsident Assad selbst „zur militärischen Unterstützung“ ins Land geholten ausländischen Terroristen eskalierte die Gewalt. „Zu diesem Zeitpunkt hätte der Westen, Europa intervenieren müssen. Diese große Chance hat Europa verpasst. Wir haben die Syrer erst entdeckt als sie bei uns vor der Tür standen."
CHRISTIAN JETZLSPERGER
Herr Jetzlsperger betont ebenfalls eingehend die fortschreitende Fragilität mancher Staaten im Nahen Osten. Die Gesellschaftsstrukturen sind durch weitgehenden, lang anhaltenden Despotismus gänzlich zerstört. Dies sind die folgerichtigen Grundlagen für einen endgültigen Staatszerfall. Für einen möglichen Wiederaufbau durch internationale Institutionen und Entwicklungshelfer sind die Möglichkeiten derzeit ziemlich begrenzt. Seiner Meinung nach bedarf es aber gerade vorab politischer Lösungen, um sich im Anschluss mit technischem Aufbau zu engagieren. Auf jeden Fall ist er der Meinung, den Dialog mit dem Nahen Osten dringend zu verstärken.
DR. RENÉ KLAFF
Nach Auffassung von Dr. Klaff sind die gravierendsten Probleme in den angesprochenen Ländern Armut, Unterdrückung und Korruption – also eine „Unrechtserfahrung“, die diesen Menschen nicht selten auch noch ihre Würde in Frage stellt. Daher besteht auch noch die Gefahr des weitgehenden Verlustes der eigenen Identität. Es gibt keinen Staat als gesellschaftliches „Bindegewebe“. Identität und Legitimität ist auch eine Frage der politischen Ordnung innerhalb eines Staates. Klaff stellt fest, dass die Europäer eigentlich nicht viel tun können, es liegt weitgehend auch an den Ägyptern, sich einer Eigenverantwortung zu stellen, aus der heraus dann eine „Zuständigkeit“ erwächst.
GUDRUN KOPP
Frau Kopp spricht für eine dringend benötigte kohärente Politik und für Prävention in allen Ressorts aus. Vorhandene Rohstoffe sind/werden zu einer Machtfrage. Zusammenarbeit in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen ist ebenso erforderlich wie eine zielführende Wirtschaftspolitik in internationalen Handelsfragen und der Agrarpolitik. Grundsätzliche politische Zusammenarbeit nach dem Kohärenzprinzip bedingt ebenso wie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Kopp empfiehlt indirekt, Entwicklungshilfe nicht vorrangig mit Geld zu lösen, sondern Wirksamkeit anstreben. Sie nennt hier als Stichworte fehlende Infrastruktur, keine Basisversorgung, kein Rechtssystem, Intransparenz. Im Vordergrund müsse Wissen und Technikaustausch vermittelt werden. Sehr lange andauernde Projekte und eine wahrhaft langfristige Politikvermittlung müsse im Geist von Humanität und Rechtsstaatlichkeit erfolgen.
PROF. DR. UDO STEINBACH
Professor Steinbach weist als Nahost-Experte auf die historischen Versäumnisse durch Frankreich und England aus dem Jahre 1918 hin. Damals wurden aus seiner Sicht Verträge geschlossen ohne Rücksicht auf die große und hochkomplexe Historie, der komplizierten Zusammenhänge im Nahen und Mittleren Osten als Schmelztiegel zahlreicher Stämme und Völker. Jahrtausende alte, verschiedene Kulturen und die Interessen der Menschen wurden mit Arroganz und Unkenntnis völlig ignoriert. Dies sei ja bis heute eine der Grundursachen für die schier unlösbare politische Lösung, vor der nicht zuletzt auch Europa und die ganze freie Welt steht. Als ein weiteres politisches Versagen der europäischen Union stellt sich rückblickend die seit Jahren praktizierte Planlosigkeit der europäischen und internationalen Politik heraus. Steinbach beklagt auch die bislang „versäumten“ Verhandlungen der EU mit der Türkei bezüglich ihrer bilateralen Beziehungen, von einer Aufnahme als Mitglied in die EU ganz zu schweigen. "Politik braucht endlich ein Konzept, einen großen Plan für eine säkulare, pluralistische Staatsordnung. Demokratie braucht Zeit und Demokraten. Die Zukunft Europas wird von der Qualität unserer Zusammenarbeit mit den Staaten im Nahen Osten und Afrika abhängen“, erklärte Steinbach.
Hamburg 20. April 2016
Maria Luisa Warburg (Hamburg)